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Namen und Bedeutung

Müde war ich am Montagmorgen des 21. Juni 1999. Platon und ich fuhren nach Aachen. Die Autobahnen rings um Köln waren übervoll, wie meist, und wir standen im Stau.

Platon war mein Freund. Bei seinem Namen liegt nahe, an den antiken Philosophen zu denken, zumal er das Fach studierte, wenn auch nur nebenbei. Außer Geschichte hatte ich ebenfalls Philosophie belegt. Da ich Bruno heiße, somit einen Namensvetter habe, auf den Friedrich Schelling mit seiner Schrift über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge verwies,[1] erscheint mir der Hinweis angebracht, daß sich das, was ich erzählen will, keineswegs mit dem Idealismus in ein oder anderer Ausprägung beschäftigen soll — sofern dies möglich ist.

Wie üblich werden Platons Eltern ihm den Namen direkt nach der Geburt gegeben haben, also in weitgehender Unkenntnis seines Wesens. Ich weiß nicht, wie sie auf ihn gekommen sind, ob sie sich etwas davon erhofften, ob sie einer Tradition folgten oder ob ihnen ›Platon‹ schlicht gefiel. Was das angeht, bin ich auch hinsichtlich meiner selbst ahnungslos. Ich habe meine Eltern nie gefragt, warum sie mich auf den Namen ›Bruno‹ taufen ließen, und sie haben es nicht von sich aus erzählt.

Namen sind unwesentlich. Vermutlich kann ich sie mir deshalb schlecht merken. Fakten und Zusammenhänge stehen mir auch noch nach Jahren lebendig vor Augen. Wichtige Gespräche erinnere ich nahezu wortgetreu — bis auf die Namen. Wie Personen, Straßen oder Orte heißen, vergesse ich im selben Moment, da ich es höre. Es ist ein blinder Fleck in meinem Gedächtnis.

Ich fürchte, mir ermangelt ein Konzept für Bedeutung. Nicht, daß ich mich für begriffsstutzig hielte, darum geht es nicht. Aber was ist das, Bedeutung? Und Namen haben doch wohl etwas damit zu tun, oder nicht? Soviel glaube ich allerdings verstanden zu haben, daß es zu den unabdingbaren Voraussetzungen sowohl des Studiums der Philosophie als auch der Geschichte, vermutlich jeder Geisteswissenschaft gehört, eine Auffassung von Bedeutung zu haben, wenigstens eine erahnte. Ich begreife die Welt eher naturwissenschaftlich. Solches Denken kann mit Bedeutung nichts anfangen. Mag sein, darum war ich unzufrieden mit dem Studium.

Als universellste bedeutungsvolle Erscheinung gilt die Negation.[2] Jede Sprache kennt Mittel, einen Ausdruck zu verneinen. Ansonsten ist es keine Sprache. In mathematischen Formeln erscheint sie zum Beispiel als vorangestelltes Minuszeichen. Zu polarisieren ist der Negation wesentlich. Durch sie wird alles eine Frage von ›Ja‹ oder ›Nein‹, wahr oder falsch. Gäbe es sie nicht, könnte kein Satz Wirklichkeit auf diese beiden Alternativen fixieren, wie es der frühe Ludwig Wittgenstein gefordert hat.[3] Paul Watzlawick und seine Mitautoren müssen es noch genauso gesehen haben, als sie in der vierten pragmatischen Grundannahme ihrer Kommunikationstheorie Sprache als digital bezeichneten.[4] Verhalten sei demgegenüber analog.

Verhalten vermöge Beziehungen besser auszudrücken als die in dieser Hinsicht unzulängliche Sprache,[5] andererseits ermangeltem ihm formale Verhältnisse. Es habe keine Syntax, keine logische Struktur. Insbesondere fehle ihm jede Fähigkeit zur Negation.[6] — Der angebliche semantische Mangel der als digital verschrieenen Sprache hinderten Watzlawick nebst Mitautoren allerdings noch nicht einmal in derselben Publikation daran, menschliche Beziehungen ausführlich und in zahlreichen Beispielen ohne Rückgriff auf jegliches eigene sprachbegleitende Verhalten darzustellen. Desgleichen vermögen sie darin mit nichts anderem als rein sprachlichen Mitteln eine Position gegenüber dem Leser einzunehmen: Wenn die Wirklichkeit auch konstruiert ist, Zweifel sind dennoch unangebracht, denn wir kennen die Pläne und können dir die Welt erklären.

Eine Ekelreaktion ist eine Geste des Widerwillens. Weltweit ist sie mit demselben Gesichtsausdruck verbunden: Die Nase wird gerümpft, die Oberlippe hochgezogen, während die Mundwinkel nach unten gehen. Auch wenn sich eine Ekelreaktion teilweise des primitiven Brech- und Würgereizes bedient, wird sie unter die Affekte gezählt, ist keine instinktive Reaktion. Denn anders als der Ausdruck sind die Auslöser keineswegs überall gleich. Worauf ein Mensch mit Ekel reagiert, ist nicht nur angeboren, sondern wird zumindest auch durch Sozialisation erworben. Tieren werden Ekelreaktionen sogar abgesprochen. Zählen sie damit noch zum Verhalten oder sind sie bereits sprachlich zu nennen? Und wenn sie zum Verhalten gehören, kennt dieses dann tatsächlich keine Negation?

Eher vom späten Wittgenstein ausgehend beschreibt Harald Weinrich in seiner Textgrammatik der deutschen Sprache Negation als Einspruch gegen eine bestehende Erwartung. Sie orientiere das Sprachspiel um und öffne es für neue Bedeutungen und Feststellungen. Er bestätigt eine binäre Opposition zwischen Zu- und Einspruch, zwischen ›Ja‹ und ›Nein‹. Eine Erwartung werde durch diese entweder akzeptiert oder angehalten.[7] Das ist dann aber auch schon alles. Von wahr und falsch ist bei ihm keine Rede.

›Nein‹ nennt er eine einfache Negation, bei der dem Kontext oder der Situation zu entnehmen sei, was sie stoppe. Demgegenüber stehe eine spezifische Negation in direktem Zusammenhang zu ihrem Gegenstand.[8] Beispielsweise lassen sich ›wahr‹ und ›falsch‹ als ›unwahr‹ und ›nicht falsch‹ negieren, was aber auch nur Einspruch gegen Erwartungen erhebt. Ins Gegenteil verkehren sie sich nur unter der Voraussetzung, daß jede Halbwahrheit kategorisch ausgeschlossen ist. Wann könnte sie das jemals sein? Außer in der Logik natürlich.[9]

Logische Operatoren generieren aus den Wahrheitswerten ihrer Argumente unter vollständiger Vernachlässigung deren Bedeutung weitere Wahrheitswerte. ›Und‹, ›Oder‹, ›Entweder oder‹ sind solche logischen Operatoren, ebenso wie deren Umkehrungen sowie die Negation selbst. Henry Maurice Sheffer[10] und vor ihm bereits wohl auch schon Charles Sanders Peirce haben herausgefunden, daß sie sich alle durch Verkettungen nur eines einzigen Operators ersetzen lassen: ›Nicht beide‹. Mengentheoretisch ausgedrückt erklärt er alles für wahr außer den Schnittmengen.[11]

Augenscheinlich handelt es sich um die Negation des logischen ›Und‹, aber da sich damit auch die Negation selbst ersetzen läßt, schlicht indem der Operator auf das zu negierende Argument mit sich selbst angewendet wird, kann die Logik auf einmal ganz ohne diese auskommen. Muß das ›Nicht beide‹ dann nicht grundlegender sein als die durch sie darstellbare Negation? Liegt es nicht bloß an der Formulierung, daß scheinbar eine Umkehrung in dem Operator enthalten ist?

Das ›Nicht beide‹ läßt sich leicht als Schaltung realisieren, was weitreichende technische Konsequenzen hat: Viele elektronische Bausteine bestehen aus nichts anderem als Verkettungen solcher Schaltungen. Wahrheitswerte der Argumente repräsentierende Leitungen öffnen bei anliegender Spannung Schalter. In der das Ergebnis darstellenden Leitung fließt Strom, solange zumindest einer der Schalter geschlossen ist.[12] — Eine Negation kommt in dieser Formulierung nicht vor. Ließe sich nicht also sagen, Grundlage aller Berechnungen der klassischen Aussagenlogik ist, daß sich Argumente gegenseitig ausschließen?

Allerdings ist das ›Nicht beide‹ nicht der einzige Operator, durch dessen Verkettungen sich alle anderen ersetzen lassen. Das funktioniert auch mit ›Weder noch‹.[13] Dabei ist alles wahr außer den Argumenten.[14] In der klassischen Aussagenlogik gibt es keine Beziehung zwischen ›Nicht beide‹ und ›Weder noch‹, abgesehen davon, daß es sich bei beiden um Negationen handeln soll, also um Ableitungen aus grundlegenderen Operatoren. Das eine ist die Umkehrung des logischen ›Und‹, das andere jene des logischen ›Oder‹. Vielleicht führt diese Betrachtungsweise aber auch in die Irre.

Daß in einer Schaltung ein geschlossener Stromkreis einen positiven Wahrheitswert darstellt, beruht auf Vereinbarung.[15] Ein geschlossener Stromkreis ist nicht wahrer als ein offener. Was passiert aber mit einer ›Nicht beide‹-Schaltung, wenn die Bedeutung umgekehrt wird, wenn ein geschlossener Stromkreis statt für einen positiven nun für einen negativen Wahrheitswert stehen soll? Sie funktioniert nicht länger als ›Nicht beide‹. Einerseits versteht sich das wohl von selbst, andererseits finde ich es durchaus bemerkenswert. Was heißt denn dann Bedeutung in diesem Zusammenhang? Zumal aus der Schaltung keineswegs eine Repräsentation des logischen ›Und‹ wird. Stattdessen verwandelt sie sich in ein ›Weder noch‹. Das gleiche widerfährt übrigens auch dem Gegenstück: Eine ursprüngliche ›Weder noch‹-Schaltung[16] funktioniert nach einer Bedeutungsumkehrung als ›Nicht beide‹ und nicht als logisches ›Oder‹. — Welche Umkehrung ist nun aber grundlegender für die Logik, die lediglich die Ergebnisse umkehrende Negation der klassischen Aussagenlogik, nach der die beiden Operatoren, deren jeweilige Verkettungen als einzige alle anderen ersetzen können, nichts miteinander zu tun haben, oder aber die Verkehrung der Bedeutung, was immer das sein mag, durch die sie sich ineinander verwandeln, als Seiten derselben Münze erscheinen?

Falls elektronische Schaltungen überhaupt so etwas wie Bedeutung haben können, worauf sollte diese beruhen, wenn nicht darauf, daß sie sich analog zu Sätzen der klassischen Aussagelogik verhalten? Wenn aber Verhalten in strenger Analogie zur wohl digitalsten aller Sprachen zu stehen vermag — und auf nichts anderem basiert die Computertechnologie, entlarvt das nicht jeden Versuch, einen Unterschied zwischen beiden auszumachen, als witzlos?

Insofern eine Frage, Aufforderung oder Feststellung eine Verneinung enthält, erhebt ein ›Nein‹ laut Weinrich keinen Ein-, sondern stellt einen Zuspruch dar. Minus mal Minus ergibt nicht immer Plus, zumindest nicht im Deutschen.[17] Ein ›Ja‹ sei in solchen Fällen keine zulässige Antwort. Es bedürfe eines ›Doch‹, um den positiven Inhalt einer bereits angehaltenen Erwartung zu bejahen.[18]

Geht Erwartungen zuzustimmen oder Einspruch gegen sie zu erheben tatsächlich vollständig in der Opposition von wahr und falsch auf, unter die Watzlawick bereitwillig alle sprachlichen Äußerungen einordnete? Oder funktionieren natürliche Sprachen vielleicht doch nicht nur rein sachlich, sondern auch auf der Beziehungsebene?

Sprache steht für etwas anderes, Verhalten für sich selbst.[19] Davon ging Watzlawick aus. Andererseits besagt die erste seiner pragmatischen Grundannahmen der Kommunikation, es sei unmöglich, nicht zu kommunizieren.[20] Insofern verhält sich jeder immerzu, und zwar auf die ein oder andere Art kommunizierend. Und auch wer sich nur sprachlich äußert, zum Beispiel schriftlich, verhält sich; dann aber ist Sprache nie nur digital, sondern gleichzeitig immer auch analog. Wenn allerdings unter Analogie tatsächlich verstanden werden soll, daß es eine grundsätzliche Ähnlichkeitsbeziehung zu dem Gegenstand gibt, für den etwas steht, drängt sich mir die Frage auf, was daran eklig sein soll, wenn jemand die Nase rümpft, die Oberlippe nach oben zieht und die Mundwinkel senkt.

Ein vorangestelltes Minuszeichen in einer mathematischen Formel hat eigentlich auch nichts mit wahr oder falsch zu tun. Es kehrt einen Betrag in entgegengesetzter Richtung um. Wobei nicht die Negation polarisiert, sondern die Null. Sie bildet den Angelpunkt. Daß sie einen Wert umkehrt, trifft in jedem Fall auf die Negation in der klassischen Aussagenlogik zu.[21] Dort gibt es zwar weder Null noch Angelpunkt, doch zu polarisieren erübrigt sich, da sie sowieso nur wahr und falsch kennt. Mit Halbwahrheiten gibt sie sich wie gesagt nicht ab.

Da gibt es also etwas in der Formelsprache der Mathematik, das Negation genannt wird, ebenso in jener der klassischen Aussagenlogik und im Deutschen. Aber es verhält sich jeweils anders. Anhalten ist nicht umkehren. Was soll nun heißen, alle drei bedeuteten dasselbe? Müßte das nicht aber der Fall sein, wenn es sich bei der Negation tatsächlich um die universellste bedeutungsvolle Erscheinung hielte?

Eigennamen sind überflüssig. Ihnen gegenüber stehen Begriffe. Diese bezeichnen Eigenschaften, die auf mehrere Dinge zutreffen können, etwa ein Freund zu sein oder nach Aachen zu fahren. Begriffe lassen sich miteinander kombinieren, um wie ein Eigenname auf etwas Bestimmtes hinzuweisen. Der Freund, mit dem ich an jenem Tag nach Aachen gefahren bin, kennzeichnet Platon mindestens ebenso eindeutig wie sein Name.

Es gilt als unhöflich, einen Menschen über seine Eigenschaften anzureden. Dementsprechend gilt Desinteresse als möglicher Grund eines schlechten Namensgedächtnisses. Ich kann nicht ausschließen, daß mich Beziehungen und Beschaffenheiten, insofern sie als Merkmale taugen, mehr interessieren als Einzeldinge. Zwar ist auch einen Namen zu haben eine Eigenschaft, aber eben keine wesentliche.

Nur wenn sich Geschichten mit einem Namen verbunden haben, besteht eine Chance, daß ich ihn mir zu merken vermag. Dann ist er jedoch mehr Titel als Name, etikettiert eher die Menge der Eigenschaften und Beziehungen als jenes Einzelding, das durch diese spezifiziert wird. Platon ist der Grund, daß ich etwas erzähle. Aber er ist für mich niemand an und für sich. An jenem Tag war er vor allem der Freund, mit dem ich nach Aachen fuhr.