Zur Begrüßung ein ehrliches Wort
Kennen Sie die Redewendung ›offen und ehrlich‹? Mich hat das ›und‹ gewundert. Sind ›offen‹ und ›ehrlich‹ nicht mehr oder minder dasselbe? Dann aber handelt es sich um eine Tautologie, und tatsächlich finden sich Stellen, an denen die Redewendung als solche aufgeführt wird (als sogenannte ›Zwillingsformel‹). Ist sie also als rein rhetorische Figur abzutun?
Offen ist jemand, der anderen Menschen ohne Hintergedanken begegnet. Insofern hat Offenheit Anteil an der Radikalität spontaner Daseinsäußerungen [Løgstrup 1989, S. 9]. Wenn es hingegen darum geht, ehrlich zu sein, steht die Erfüllung einer moralischen Pflicht im Vordergrund, also die Einhaltung einer Norm. Das mag in Zusammenhang mit dem negativen Character der Ehre stehen [Schopenhauer 1946], in welcher der Ursprung des Begriffs der Ehrlichkeit liegt, auch wenn sich dieser inhaltlich längst davon abgelöst hat. Insofern jemand die Ehrlichkeit derart verinnerlicht hat, daß sie ihm zur Natur geworden ist, spricht er die Wahrheit offen aus, ohne auf die Ehrlichkeit seiner Äußerung hinzuweisen. Die Ankündigung »Ehrlich gesagt …« weist hingegen zumeist auf einen Konflikt hin, aus dem heraus sich jemand genötigt fühlt, seiner Pflicht zur Wahrhaftigkeit genüge zu tun, auch wenn der Konflikt dadurch in die Welt getragen zu werden droht. »Ehrlich gesagt, so geht das nicht« könnte zum Beispiel jemandes Äußerung sein, der eigentlich lieber allem Ärger aus dem Weg gehen möchte, der sich aber dann letztlich doch aus einer moralischen Verplichtung heraus zum Widerspruch entschieden hat, selbst wenn dies Konsequenzen für ihn mit sich bringt.
›Offen und ehrlich‹ verbindet also zwei verschiedene, möglicherweise sogar gegensätzliche Eigenschaften [Løgstrup 1989, S. 36] miteinander. Aber was hat das alles mit diesen Seiten zu tun?
Auf diesen Seiten geht es um mein literarisches Schaffen. Offenheit darf hier, ehrlich gesagt, keiner erwarten. Ich empfinde Schreiben stets als anstrengend. An allen Ecken und Enden muß gefeilt werden. Jeder Satz will hinterfragt sein, und dies nicht nur einmal, sondern immer wieder. Außerdem weiß ich nicht, ob ich überhaupt fähig bin zu hintergedankensfreier Spontaneität. Hauptsächlich bin ich doch wohl ein Denkendes und hinter allem, was ich tue, findet mehr oder minder ein Denken statt. Wo sollte sich da also Platz finden für Spontaneität? Wenn sich diese überhaupt jemals bei mir einstellt, so sicher nicht beim literarischen Schaffen.
Und wie steht es mit der Ehrlichkeit? Nun, in der Regel schreibe ich über Dinge, die es so nicht gibt oder gegeben hat, jedenfalls nicht außerhalb meiner Vorstellung. Das nennt sich dann Fiktion. Buchstäblich ist das eine Lüge [Baruzzi 1996]. Denn es ist durchaus nicht so, daß ich dabei auf jeden Wahrheitsanspruch verzichte, freiwillig jedenfalls nicht. Ich verstand und verstehe mich vielmehr stets als ein der Wahrheit verpflichteter Lügner. Aber, und das zu sagen gebietet eben die Ehrlichkeit, in meinem literarischen Schaffen bin und bleibe ich ein Lügner.
Gerne verweise ich darauf, wo ich etwas gefunden habe. Dies geschieht weder, um eigene Belesenheit zu beweisen, noch um sich von anderer Seite Renommee oder gar Kompetenz zu borgen. Ich glaube nicht, daß nur allein mein Schreiben fiktional ist. Und Fiktionalität erstreckt sich bis weit in die Begriffsbildung [Vaihinger 1911]. Wenn ich auf eine Quelle hinweise, so geschieht das in Anerkennung der Leistung des jeweiligen Autors (selbst wenn ich mich daran reibe). Da ich mich nicht mit fremden Federn schmücken will, weise ich darauf hin, aus welchem Gefieder sie stammen. Eigentlich ist das doch wohl eine Selbstverständlichkeit, oder?
Mein literarisches Schaffen gedeiht auf keinem leeren Hintergrund. Dieser erscheint mir keineswegs selbstverständlich zu sein, sondern sowohl frag- als auch der Erwähnung würdig. Und ginge es nur darum, diesen Hintergrund auszuleuchten und lebendig zu erhalten, so reichte mir dies zur Rechtfertigung meines Schaffens aus. Ob und inwiefern es mir gelingt, darüber hinaus Neues zu schöpfen, das zu beurteilen liegt allerdings außerhalb meiner Kompetenz.
Die Zitate könnten vielleicht vermuten lassen, ich wollte mit meinem literarischen Schaffen gar einen wissenschaftlichen Anspruch verbinden. Ich kann jedoch versichern, spätestens seit ich gelesen habe, ein Intelektueller sei ein Experte, dessen Expertise unerwünscht ist [Knoblauch 2005], sind allen wissenschaftlichen Ambitionen, so ich sie überhaupt jemals gehegt haben sollte, erfolgreich die Beine gebrochen worden. Als Intelektueller zu gelten, das wäre das Maximum dessen, was ich in akademischen Kreisen jemals erreichen zu können hoffen dürfte. Und dazu müßte ich erst einmal Experte sein.
Was ich schreibe, ist in weitem Sinne als weltanschaulich zu betrachten. Es geht darum, wie Welt gesehen wird beziehungsweise werden kann. Wer dabei allerdings Antworten erwartet, wird vermutlich enttäuscht werden. Mir erscheinen nämlich die Fragen meist spannender und wichtiger zu sein als alle Antworten (darum würde mir auch genügen, als fragwürdige Existenz angesehen zu werden). Zu verschiedenen Zeiten finden verschiedene Menschen oder Kulturen verschiedene Antworten. Was oft bleibt, sind die Fragen, die sich zudem äußerst selten tatsächlich einmal mit einer Antwort erledigt haben. Doch spiegelt sich nicht in ihnen, worauf es jeweils ankommt? — Das wäre aber ein feiner Experte, der keine Antworten weiß, sondern bloß auf die Fragen schielt, der keine Antworten geben will, sondern je nach Blickwinkel schlimmsten- oder bestenfalls weitere Fragen aufzuwerfen sucht.
Selbstverständlich nähere auch ich mich Fragen über den Versuch einer Antwort. Doch hat dieser stets vorläufig zu bleiben und keinen Anspruch zu erheben, etwas geklärt zu haben, schon gar nicht letztgültig. So wie auch die Frage unbeantwortet geblieben ist, bleiben mußte, was tatsächlich mit einer Formulierung wie ›offen und ehrlich‹ gemeint sein könnte.