Brief an Utis: Vergeltung
Die Idee zu diesem Brief kam im letzten Urlaub auf. Seitdem verfolgt sie mich. Nicht arg, aber immer wieder. Sie blockiert mich ein wenig, denn sie schiebt sich immer wieder als Aufforderung in den Vordergrund, wenn ich eigentlich etwas anderes angehen will.
Ich habe auch durchaus schon etwas recherchiert in die Richtung, bin aber noch nicht wirklich fündig geworden. Sei's drum, es ist langsam Zeit, die Sache zu formulieren, schon allein, um den Kopf etwas freier zu bekommen (z. B. um weiter nach einer passenden Frage für den Existentialismus zu suchen).
Ich ärgere mich (nicht erst in jüngster Zeit), wenn ich höre, daß Opfer als Schimpfwort herhalten muß. Ich will gar nicht damit anfangen, daß Opfer zu sein im Christentum (Leitkultur!) eigentlich den höchsten Stellenwert hat. Der Gottessohn (und damit Gott selbst), hat sich geopfert, um die Sünden der Welt auf sich zu nehmen. Für einen Atheisten wie mich hat solch ein Argument kein echtes Gewicht. Die Leitkultur, gegen die verstoßen wird, indem jemand als Opfer verhöhnt wird, ist zudem noch um einiges älter als das Christentum. Was damit geschieht, ist schlicht barbarisch und unzivilisiert!
Die Leitkultur, an die ich denke, hat sich im Athen des 7. vorchristlichen Jahrhunderts entwickelt. Drakon ist als grausamer Gesetzgeber bekannt, der eigentlich für alle Vergehen nur eine einzige Strafe kannte: den Tod. Er war es, der uns alle zu Opfern hat werden lassen (und damit zivilisiert). Denn er wandte sich insbesondere gegen die Blutrache und legte den Grundstein für das, was schließlich zum staatlichen Gewaltmonopol werden sollte. Seitdem üben wir, insofern uns etwas angetan wurde, nicht mehr selbst Vergeltung, sondern nehmen hin, daß wir Opfer geworden sind und wenden uns vertrauensvoll an den Staat, damit uns Gerechtigkeit wiederfahre. Genau das ist der Kern aller Zivilisation!
Die sprichwörtlich gewordene Grausamkeit der drakonischen Strafen war notwendig, damit die Opfer bereit waren, von ihrem Recht auf Vergeltung abzusehen, welches ihnen die Blutrache sowohl gewährte als auch als Pflicht auferlegte. Eine einzige Trilogie der zu Ehren Dionysos in Athen aufgeführten Tragödien hat sich erhalten (Aischylos Orestie: Agamemnon, Die Grabspenderinnen, Eumeniden), und diese thematisiert eben diesen Übergang von der Blutrache zum institutionalisierten Recht: Nach seiner Rückkehr vom siegreichen Kampf um Troja wird Agamemnon von seiner Gattin Klytaimestra ermordet. Auf Drängen Apollons rächt Orestes den Tod des Vaters durch den Mord an der Mutter. Das ruft die Erinnyen auf den Plan, alte Rachegöttinnen, welche wiederum Orestes wegen des Frevels des Muttermordes verfolgen. Dessen Flucht führt schließlich nach Athen, wo er vor Gericht gestellt und mit Stimmengleichheit freigesprochen wird (wobei Athenae selbst die letzte und entscheidende Stimme abgibt). Athenae bietet den Rachegöttinnen an, die sich zunächst schwertun, sich mit dem Urteil abzufinden, in der Stadt zu bleiben und dort als Eumeniden (die Wohlmeinenden) segensreich zu wirken, worauf sich diese schlußendlich einlassen.[Aischylos 2006]
Ich könnte mir vorstellen, bereits als die Orestie uraufgeführt wurde (458 v. Chr.) gab es Anlaß genug zu zweifeln, daß institutionalisiertes Recht in allen Fällen Gerechtigkeit zu schaffen vermag. Zum staatlichen Gewaltmonopol gesellte sich denn auch ein wesentlich schwerer der Wirkungslosigkeit zu überführendes, religiöses Vergeltungsmonopol. Ein Christ z. B. verzichtet nicht prinzipiell darauf, nur weil er einem die andere Wange hinhält (Matthäus 5,39). Denn er vertraut darauf, daß Gott Vergeltung übt.[Luther 1987] Bis in die Neuzeit hinein war die Vorstellung von der Glückseligkeit der Gerechten problemlos damit zu vereinbaren, daß diese sich am ewigen Leiden der Verdammten in der Hölle delektieren (Schadenfreude ist halt die schönste Freude) [wenn ich nur wüßte, wo ich das gelesen habe; da[Strauss 1841] zwar nicht, aber der Hinweis mag dennoch als Beleg dienen]. Da gerät aber dann wirklich jede Freundlichkeit und Barmherzigkeit (Hungrigen zu essen geben, Durstigen zu trinken) zur Perfidie, wenn damit das ewige Leiden nur verschlimmert werden soll (feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln). Wie soll das denn dann noch funktionieren, gegen jedermann auf Gutes bedacht zu sein?
Nun stellt sich aber die wirklich spannende Frage dieses Briefes: Was hält die Erinnyen weiterhin im Zaum, wenn das Vertrauen sowohl in die Fähigkeit des Staates, Gerechtigkeit zu schaffen, als auch der Glaube an eine Vergeltung übende religiöse Instanz schwindet bzw. nicht mehr vorhanden ist?
Spontan dachte ich an Martin Luther (›Hier stehe ich und kann nicht anders!‹). Mit seiner Lehre, allein durch den Glauben sei die Glückseligkeit zu erreichen (sola fide), hat er sich doch wohl endgültig von der Vorstellung einer durch Gott garantierten, nach dem Tod eintretenden Gerechtigkeit verabschiedet. Der größte Schurke brauchte nur auf dem Sterbebett zu bereuen und sich zum Glauben zu bekehren, schon erhielt er dafür die ewige Glückseligkeit. Gut, auch schon die katholische Kirche hatte mit dem Ablaßhandel göttliche Gerechtigkeit als käufliches Gut erscheinen lassen. Spätestens ab der Reformation müßte sich aber doch eine andere Begründung finden lassen, auf persönliche Rache zu verzichten, denn es gab keine Instanzen mehr, die einem Vergeltung für erlittenes Unrecht garantierten.
Ich habe bei Max Weber und seiner Untersuchung der protestantischen Ethik gesucht, bin aber nicht fündig geworden. Inzwischen schwant mir, daß sich irgendwann die Vorstellung herausgebildet haben muß, daß ein Übeltäter nicht allein das Opfer schädigt, sondern ebenso sich selbst. Diese Selbstbeschädigung und Belastung des eigenen Gewissens bildet dann den Ausgleich für die nicht mehr erfolgende Vergeltung (»Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« (Matthäus 16,26)). Folglich erscheint ein Mensch, der unfähig dazu ist, Schuld zu empfinden (Soziopath) als gefährliche Ungeheuerlichkeit.
Ich bin mir nicht sicher, ob eine solche Selbstbeschädigung nicht größtenteils Fiktion ist. Wenn Simo Häyhä auf die Frage antwortete, was er empfand, als er im finnisch-sowjetischen Winterkrieg 1940 über 500 feindliche Soldaten erschoß: »Den Rückstoß«, so liegt die Unterstellung nahe, er habe damit seine Empfindungen nicht vollständig preisgegeben. Aber sie ist dennoch nur das, eine Unterstellung, die aus dem Wunsch erwächst, die Fiktion einer Selbstbeschädigung aufrecht zu erhalten. Geht das, ein menschliches Leben auszulöschen, ohne Schuld dabei zu empfinden? Welche Schuld empfindet aber denn ein Schlachter, wenn er ein Tier tötet? Hat er deswegen schlaflose Nächte? Und der Trick ist alt: Der jeweilige Feind braucht bloß entmenschlicht werden, schon regt sich das Gewissen nicht mehr. So war es den Nationalsozialisten möglich, all jene zu ermorden, die sie für Untermenschen und nicht lebenswert hielten. Statt als ein der Ungeheuerlichkeit seiner Taten entsprechendes Monster befand Hannah Arendt Eichmann als Hanswurst und konstatierte die Banalität des Bösen.
Das mit der Entmenschlichung funktioniert auch noch in neuerer Zeit, etwa als nach der Annektierung Kuwaits 1990 behauptet wurde, irakische Soldaten hätten Frühgeborene aus ihren Brutkästen gerissen. Wer sowas tut, der ist doch kein Mensch mehr, oder? Da regte sich dann das schlechte Gewissen noch nicht einmal, als die Geschichte als Lüge entlarvt war.
Nun, ich befürchte, das Thema wird mich noch eine Weile verfolgen.
MDCremer, Gelsenkirchen den 12. Februar 2016