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Brief an Utis: Existentielle Frage

Was ist Existenzialismus? Bei der Beantwortung dieser Frage bin ich so ziemlich steckengeblieben. Das liegt mit daran, daß es eine essentialistische Fragestellung ist und keine existentialistische.

»Was ist das?« — »Ein Ball.« — »Was ist ein Ball?« — »Rund.«

Damit ist das Wesen eines Balles schon recht gut getroffen, wenn auch letztlich noch nicht vollständig befriedigend. Denn auch eine Kanonenkugel ist rund. Aber sie ist kein Ball.

»Ein Ball ist rund und weich.«

Als Schüler habe ich einmal einen Handball auf den Solar plexus bekommen. In dem Moment assoziierte ich das Ding sicher nicht mit der Eigenschaft ›weich‹. Aber im Vergleich mit einer Kanonenkugel mag Weichheit als wesentliches Merkmal durchgehen.

»Was ist ein Ball?« — »Rot« oder »Aus Leder« sind unbefriedigende Antworten, weil nicht nach einem bestimmten Ball gefragt wurde, sondern nach einem Ball allgemein. Fraglos gibt es rote und lederne Bälle, aber nicht alles, was Ball ist, ist darum auch rot und aus Leder.

Nach dem allgemeinen Was von etwas zu fragen, will auf dessen Wesen, seine Essenz hinaus. Den Existentialismus oder — etwas vornehmer — die Existenzphilosophie interessiert jedoch das Was nicht mehr [Arendt 1990]. Ihr geht es um das Daß des Balles, auf welches das Was keinen Einfluß haben soll.

Wobei ich den Verdacht hege, dem Existentialismus sind Bälle ziemlich egal. Im Zentrum des Interesses steht meines Erachtens der Mensch und seine Freiheit [Sartre 2006].

Wenn aber das Was uninteressant geworden ist, wonach fragt der Existentialismus dann eigentlich? Darauf habe ich bisher keine Antwort gefunden.

Wie frage ich nach einem Daß? Zunächst fällt mir da das Warum ein.

»Warum ist da etwas und nicht vielmehr nichts?« (wohl erstmals formuliert von Leibniz; nach Heidegger die ursprünglichste Frage der Metaphysik)

Tatsächlich habe ich einen Wettbewerb gefunden, der diese Frage zur ›Grundfrage der Philosophie‹ erhebt (nicht eine der Grundfragen sondern die Grundfrage). Da scheint sich ja seit Kant einiges in der Philosophie getan zu haben. In dessen kleinem Fragenkatalog (übrigens alles Was-Fragen) taucht sie noch überhaupt nicht auf.

Glücklicherweise bin ich kein Philosoph (wenn mich jemand nach meinem Was fragt, würde mir die Antwort ›Freigeist‹ gefallen, andererseits bin ich viel zu sehr im Hier und Jetzt verankert, um als freier Geist gelten zu dürfen), da brauche ich mich mit solcherlei Grundfragen nicht zu beschäftigen. Die finde ich nämlich herzlich uninteressant.

Das scheint übrigens auch auf Existentialisten zuzutreffen, denn ich kann mich nicht erinnern, daß sich auch nur einer lange mit dieser Frage beschäftigt hätte (hat sich eigentlich Heidegger selbst um eine Antwort bemüht?). Insofern ist das Warum offenbar ungeeignet, um als Fragestellung des Existentialismus gelten zu dürfen.

Vielleicht fragt der Existentialismus aber auch überhaupt nicht? Möglicherweise genügt es ihm, sich in existentiellen Situationen (wie war das: Tod, Schuld, Schicksal, Zufall …) von der Realität anspringen zu lassen, um sich dabei gänzlich der unmittelbaren Erfahrung hinzugeben? Als ich als Schüler einen Handball auf den Solar plexus bekommen habe, durfte ich erfahren, welch essentieller Bestandteil des Atemprozeßes das Ausatmen ist. Für eine gefühlte Ewigkeit konnte ich nämlich nur noch Luft holen, diese aber nicht mehr loswerden. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich mir in dem Moment nicht wirklich philosophische Fragen gestellt. Eigentlich beschäftigte ich mich einzig und allein damit, wo ich in den schon vollen Lungen noch einen weiteren Atemzug unterbringen könnte.

Ich glaube, es gibt (oder gab) tatsächlich solch einen ›Living on the edge‹-Existentialismus (ich verbinde ihn mit Camus, weiß allerdings nicht, ob ich ihm damit nicht Unrecht tue). Der interessiert mich ebensowenig wie die Frage nach dem Warum von Existenz überhaupt. Ich mag keine existentiellen Situationen und sehne mich einzig und allein danach, möglichst mühelos sowohl ein- als auch ausatmen zu können. Dies insbesondere, weil es Grundvoraussetzung dessen ist, was ich gerne tue: Denken.

Oder stellt der Existentialismus gar keine anderen Fragen?

»Was ist der Mensch?« — Das ist die vierte der Fragen der Philosophie nach Kant. Er hielt sie sogar für die Frage aller Fragen der Philosophie.

»Was ist der Mensch?« — »Frei! Frei, sich seine eigenen Zwecke zu setzen und damit über sein eigenes Wesen zu bestimmen.«

Ist das nicht die Antwort, die Sarte darauf gegeben hat? Die ist zwar gut, aber nicht neu [Pico 1996]. Zudem geht es dann weiterhin um das Was. Worin unterscheidet sich dann der Existentialismus vom Essentialismus abgesehen davon, daß er sich auch subjektive und sogar irrationale Antworten erlaubt? Ich finde, der Existentialismus müßte eine eigene Fragestellung haben, ansonsten ist er auf Dauer uninteressant.

MDCremer, Gelsenkirchen den 3. November 2015